die prägephase beim hund ist entscheidend für seine weitere entwicklung.
was er während der ersten lebenswochen an sozialisation erfährt, macht ihn fit fürs spätere leben.
daher ist es ja wichtig dass diese ersten rund 16 lebenswochen das bieten, was er später an erfahrungen im alltag bewältigen muss.
was aber, wenn er nicht alles kennenlernt?
wenn es sozialisationsmängel gibt?
wenn er womöglich irgendwo reizarm aufgewachsen
oder gar die ersten paar jahre seines lebens in einem zwinger aufgewachsen ist?
die antwort darauf ist ein simples: ja und nein.
ja insoferne, als wir heute wissen, dass es auch „aufholende sozialisation“ gibt.
nein deswegen, weil die entwicklung natürlich trotzdem nicht vergleichbar ist mit der eines hundes mit störungsfrei verlaufener sozialisation.
entscheidend dafür, wie was man alles noch wettmachen kann, sind einige faktoren:
1. der zeitpunkt
grob gesprochen können wir 3 zentrale zeitspannen unterscheiden:
erstens: die ersten 8- 10 lebenswochen noch wurf
hier sind die sensiblen phasen für die entstehung von angst und im besonderen von trennungsangst zu beachten, sowie der soziale umgang der mutterhündin mit den welpen und der welpen untereinander.
schlimme erlebnisse genau in diesem zeitfenster sitzen sehr tief und sind später nur mit viel mühe etwas trainierbar.
zweitens: die 9. bis 16. lebenswoche
in dieser zeit lernt der welpe üblicherweise sein neues zuhause und alle zum alltag gehörenden dinge kennen.
fehlt da das eine oder andere, was später doch auftaucht, ist das weniger schlimm.
solange der welpe ingesamt positive erfahrungen mit allem neuen sammeln kann.
wächst er auch in dieser phase sehr abgeschieden und ohne stimulation auf, entwickelt er sich zu einem sehr unsicheren und stressanfälligen hund, der später schnell mal mit stimulation überfordert ist.
drittens: die erste phase im neuen zuhause
egal, wie alt ein hund ist, die ersten wochen in einem neuen zuhause und mit neuen menschen bestimmen die tonart für das, was kommt.
auch wenn sie nicht im klassischen sinn zur sozialisationsphase gehören. prägend wirken sie doch.
denn der hund speichert jetzt besonders intensiv ab, was er von der neuen umgebung zu halten hat.
er formuliert sozusagen seine grundannahmen über die neue welt.
fehler und versäumnisse in dieser zeit sind am leichtesten zu durch späteres training zu beheben (wären allerdings auch am leichtesten zu vermeiden).
außer sie schlagen in die selbe kerbe, die frühere (negative) erfahrungen des hundes schon geschlagen haben.
2. die zeitdauer
als faustregel könnte man sagen:
je kürzer die zeit der reizdeprivation war
bzw. je kürzer die fehlerbehaftete zeitspanne der startphase im neuen zuhause war, desto besser.
wenn der welpe nur 8 wochen in einer scheune am bauernhof gelebt hat, statt 20 wochen,
hat er es wesentlich leichter, sich in der welt zurecht zu finden.
(was nun nicht heißen soll, dass man den welpen verfrüht von der mutter trennen soll!
bitte unbedingt die gesetzlich vorgeschriebene vollendete 8. woche abwarten, manchmal besser noch etwas mehr).
wenn der junghund nur ein paar monate im tierheim-zwinger verbracht hat,
und nicht von geburt an mehrere jahre dort saß, fällt es ihm weniger schwer, sich mit der welt draußen anzufreunden.
relevant ist dabei auch, wieviel zeit dem hund zur eingewöhnung zur verfügung steht.
(und klarerweise wie groß der kontrast ist: vom einsamen wald in die großstadt geht schwerer als vom hinterhof ins dorf).
wunder darf man sich da nämlich keine erwarten.
wo welpen in der normalen prägephase alles in windeseile kennen lernen,
kann das bei einem hund mit defiziten in der prägephase schon dauern – wie lange, das kommt eben darauf an.
3. das naturell des hundes
manche hunde sind emotional robuster veranlagt als andere.
der schwedische hundeforscher beschreibt das mit der „shyness-boldness-achse“,
hunde sind also entweder am einen ende der skala und besonders scheu, vorsichtig und zurückhaltend.
oder sie sind am anderen ende der skala und besonders ungestüm, draufgängerisch und neugierig.
oder (wie die meisten) irgendwo dazwischen.
alle, die eher richtung „bold“ tendieren, tun sich leichter damit, neues zu verkraften
und können daher sozialisationsmängel später leichter wettmachen.
für die sowieso schon schüchternen und ängstlichen ist das weitaus schwieriger.
sie brauchen noch viel mehr zeit und geduld und rückhalt, wenn sie ihre alltagswelt kennen lernen.
4. mangelnde oder schlechte erfahrung?
vielleicht der wichtigste faktor ist der:
hat der hund in der prägephase einfach nur nichts kennengelernt
oder hat er schlechte oder gar traumatische erfahrungen gemacht?
wenn ein hund abgeschieden aufgewachsen ist und nie männer oder kinder kennen gelernt hat,
dann wird er denen anfangs jedenfalls misstrauisch, ängstlich und vorsichtig begegnen.
stellt sich dabei heraus, dass die harmlos sind, dann lässt sich das im lauf der zeit aber in der regel problemlos meistern.
anders liegt die sache natürlich, wenn der welpe oder junghund bereits schmerzlich erfahren musste,
dass kinder oder männer unheil ankündigen, dass sie grob und furchteinflößend sind oder gar weh tun.
eine bereits bestehende negative konditionierung zu überwinden, ist viel schwerer.
noch ungleich schwieriger ist es, wenn sogar eine traumatisierende erfahrung stattgefunden hat.
das braucht dann sehr lange, eine fachkundige begleitung im training
und vielleicht für lange jahre immer extra vorsicht rund um kinder oder männer (oder was immer es war).
5. sozialer rückhalt
das grundlegende problem eines hundes mit sozialisationsmängeln ist die unsicherheit oder gar angst.
wie sicher er insgesamt durch die vertrauten bereiche seines lebens geht
und wie behütet er sich in einer schwierigen situation fühtl,
ist daher entscheidend darüber, wie gut er sich an neues gewöhnen oder mit aufregungen klar kommen kann.
gerade bei hunden aus dem (auslands)tierschutz kann man meist zwei typen beobachten:
die einen, die offenbar mit menschenbezug aufgewachsen sind und sich mit einem souveränen menschen an ihrer seite sicher fühlen.
die anderen, die hauptsächlich in hundegesellschaft aufgewachsen sind und sich deutlich entspannen, wenn sie einen vierbeinigen beschützer an ihrer seite haben.
was immer dem hund auch hilft, er braucht jedenfalls sozialen rückhalt,
erstens allemein: damit die welt kein gefährlicher ort ist.
und zweitens in genau den momenten, wo er sich mit einer fordernden situation konfrontiert sieht.
sozialer rückhalt (vom menschen) heißt dabei nicht:
den hund auffordern, locken, mit keksen vor der nase überreden wollen oder noch so sanft drängen, sich etwas neues anzuschauen.
das wäre grundverkehrt!
es macht dem hund nur zusätzlichen druck und führt dazu, dass genau der mensch, der eigentlich rückhalt sein sollte, zu einer zusätzlichen bedrängung wird.
fazit:
echte sozialisationsmängel lassen sich mit viel geduld und ruhe jedenfalls zu einem teil überwinden,
vorausgesetzt der hund bekommt ein sicheres umfeld und sozialen rückhalt als feste basis geboten
und vorausgesetzt er kann sich allem völlig ohne druck und aus eigenen stücken nähern.
defizite aus der startphase mit einem neuen hunde vermeidet man am besten von vorneherein
oder kümmert sich möglichst rasch darum, sie aufzuholen oder fehler wieder auszubügeln,
denn je schneller man das tut, desto leichter geht es.